pathophysiologische Theorien der respiratorischen Insuffizienz und entsprechende Therapiekonsequenzen
L- und H-Typ
Im Gegensatz zur Ausgangshypothese, dass es sich bei der pulmonalen Pathologie bei COVID-19 um ein klassisches ARDS handle, haben Gattoni et al. die Theorie entwickelt, dass zwischen zwei Hauptphänotypen mit unterschiedlichem Therapieansprechen unterschieden werden muss, da die ARDS-Definition nicht auf alle Patienten mit respiratorischer Insuffizienz übertragbar sei. Dieses Modell basiert auf CT-Untersuchungen und erfordert noch klinische sowie histopathologische Validierung.
Der L-Typ (niedrig = low -> L-Typ; > 50 % der Erkrankten) sei dabei durch niedrige Elastance (= gute Compliance), ein niedriges Ventilations-Perfusions-Verhältnis, ein niedriges Lungengewicht und eine niedrige Rekrutierbarkeit gekennzeichnet.
Insgesamt sei die Lunge gut belüftet, die typischen milchglasartigen Trübungen finden sich subpleural oder in den Lungenspalten. Ein schweres Lungenödem fehle, die Hypoxämie könne im Gegensatz zum atelektasebedingten Mechanismus beim ARDS a.e. durch einen Verlust der pulmonalen Autoregulation der Gefäße erklärt werden, wodurch es - durch ausgeprägte Vasodilatation in den erkrankten, minderbelüfteten Lungenarealen - zum erhöhten Rechts-Links-Shunt kommt. Kompensatorisch komme es zu einer Erhöhung des AMV v.a. über eine Erhöhung des Tidalvolumens durch negativere intrathorakale Drücke. Daraus resultiere die geringe Rekrutierbarkeit und das häufige Fehlen von subjektiver Dyspnoe. Der Unterschied zum klassischen ARDS (s.u.) wird in der erhaltenen Lungenmechanik mit guter Compliance deutlich. Bei klinischer Unauffälligkeit seien niedrige Sättigungswerte möglicherweise tolerabel und auf eine Intubation könne verzichtet werden.
Der H-Typ (hoch = high -> H-Typ; 20-30 % der Erkrankten) zeichne sich durch hohe Elastance (= niedrige Compliance), ein hohes Ventilations-Perfusions-Verhältnis, ein hohes Lungengewicht und eine hohe Rekrutierbarkeit aus.
Bei diesen Patienten liege demzufolge ein typisches ARDS (s.u.) mit relevantem Rechts-Links-Shunt im Rahmen einer Viruspneumonie vor, die CT-morphologisch von ARDS-typischen, flächenhaften Konsolidierungen geprägt ist. Eine invasive Beatmung sei häufig unumgänglich, wobei das Ansprechen auf eine Bauchlagerung (Proning) möglicherweise von der Ätiologie des ARDS abhängig sei: das Ansprechen sei beim sekundären besser als beim primären ARDS.
Infolge hoher negativer inspiratorischer Drücke und der daraus resultierenden größeren intrathorakalen Druckschwankungen (ca. 15 cm H2O) zur Generierung höherer Tidalvolumina kombiniert mit erhöhter inflammationsbedingter Permeabilität der Lungengefäße könne es zum Übergang vom L- zum H-Typ mit Ausbildung eines schweren interstitiellen Ödems kommen. Hier soll wahrscheinlich eine frühe Intubation favorisiert werden. Nicht außer Acht gelassen werden dürfe jedoch die Tatsache, dass durch zu frühe Intubation und aggressive Beatmungsstrategien möglicherweise ebenfalls ein Übergang vom L- zum H-Typ iatrogen begünstigt werden kann.
Im Gegensatz zum H-Typ, der wie ein typisches ARDS und mit invasiver Beatmung therapiert werden solle, sei beim L-Typ wahrscheinlich ein eher zurückhaltendes Vorgehen in Form einer Stufentherapie Mittel der Wahl:
zunächst O2-Gabe über Maske bei Hypoxämie (geringere Aerosolbildung als Nasenbrille)
nicht-invasive Verfahren wie HFNC und NIV bei Patienten mit Dyspnoe, solange der Patient davon profitiert unter Berücksichtigung des Eigenschutzes (Aerosolbildung!)
kritische Indikationsstellung bzgl. Intubation, aber Notfallintubationen vermeiden
wenn möglich Vermeidung aggressiver Beatmungsparameter (hoher PEEP & Spitzendruck), da Compliance in der Regel gut, ggf. auch niedrigere Oxygenierungswerte tolerieren (Lactat?)
bei Hyperkapnie sind möglicherweise höhere Tidalvolumina (bis 8 ml/kg KG) bei guter Compliance im Gegensatz zur Beatmung beim ARDS unkritischer
Bauchlagerung intubierter Patienten nur bei Profit, Selfproning bei spontan atmenden Patienten (auch unter nicht-invasiven Verfahren) aber unterstützenswert
Zur Differenzierung in L- und H-Typ s. auch https://m4mvscovid.de/de/intensivstation/warum-covid-19-kein-klassisches-ards-ist/
ARDS
Unter dem Begriff ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome oder Akutes-Atemnotsyndrom) werden akute Lungenfunktionsstörungen im Sinne einer Oxygenierungsstörung verschiedenster Ursachen, jedoch unter Ausschluss einer rein kardialen oder hydropischen Genese zusammengefasst, bei denen es radiologisch zu einer Verdichtung der Lungenstruktur kommt. Dabei kommt es durch eine Hyperinflammation zu einer erhöhten endo- und epithelialen Permeabilität und konsekutiv zum pulmonalen, intraalveolären Ödem mit erschwertem Gasaustausch und somit zur Oxygenierungsstörung. Durch Atelektasen, die durch verminderte Surfactantbildung begünstigt werden, kommt es zum funktionellen Rechts-Links-Shunt. Eine Komplikation im weiteren Verlauf eines ARDS ist die Lungenfibrose. Ein solches Krankheitsbild kann durch SARS-CoV-2 hervorgerufen werden.
Radiologisch imponieren bei vielen COVID-19-Patienten ARDS-typische bilaterale, disseminierte, aber vor allem subpleural gelegene Verschattungen. (Rö-Thorax-Aufnahmen). Aufgrund der hohen Infektiosität des Erregers sollte jedoch möglichst auf Transporte und wiederholte radiologische Untersuchungen verzichtet werden. Auch aus diesem Grund gerät zunehmend der Lungenultraschall zur Diagnosestellung und Verlaufskontrolle in den Fokus der bildgebenden Diagnostik. Die Sonografie der Lunge ist hierbei nach aktueller Studienlage der CT-Diagnostik bei ARDS gleichwertig und kann auch schon vor klinischer Verschlechterung Hinweise für das Vorliegen einer Lungenschädigung durch das Virus und die daraus folgende inflammatorische Reaktion liefern.
Bei beatmeten Patienten lässt sich die Schwere des ARDS anhand von BGA- und Beatmungsparametern durch Berechnung des sog. Horovitz-Index einteilen in
- mild: paO2 /FiO2 > 200 aber ≤ 300 mmHg
- moderat: paO2/FiO2 > 100 aber ≤ 200 mmHg
- schwer: paO2/FiO2 ≤ 100 mmHg
Beachte: Der paO2-Wert wird hier in mmHg ausgedrückt, FiO2 ist eine dimensionslose Zahl (Fraktion). Ein Sauerstoffanteil der Inspirationsluft von 35 % bedeutet zur Berechnung beispielsweise eine FiO2 von 0,35. 100% entsprechen also einer FiO2 von 1.
Ein Rechenbeispiel:
paO2 in der BGA 114 mmHg, 65 % Sauerstoff in der Atemluft am Gerät:
114 mmHg : 0,65 = 175,38 mmHg -> fällt in die Kategorie “moderates ARDS”
Beatmungstherapie bei ARDS
War möglichst der Verzicht auf eine invasive Beatmung bisher das primäre Ziel und der Einsatz von High-Flow-O2-Therapie und NIV beim ARDS zu bevorzugen, so wird das Beatmungsmanagement des ARDS zunehmend diskutiert.
Bei mildem ARDS kann die Oxygenierung über High-Flow-Nasal-Cannula (HFNC) und nicht-invasive Ventilation (NIV) unter Beachtung der Kriterien für eine lungenprotektive Beatmung versucht werden (s. Mögliche Oxygenierungswege). Dabei ist es wichtig, ein Versagen dieser Verfahren frühzeitig zu erkennen. Die Versagerraten für die NIV liegen bei 50 %, mit Mortalitätsraten von wiederum 50 %. Bei fehlendem Frühansprechen (FiO2 <150 bzw. 175 mmHg nach einer bis zwei Stunden) auf NIV sollte daher intubiert werden, da bei diesen Patienten durch NIV die Intubation zwar verzögert, aber schlussendlich nicht vermieden werden kann.
In der S3-Leitlinie zur invasiven Beatmung wird empfohlen, Patienten mit einem Horovitz-Index < 100 mmHg zu intubieren und invasiv zu beatmen, wobei in einer Studie bereits ab einem Index von < 150 mmHg eine erhöhte Mortalität gezeigt werden konnte (zur Intubation s. Schulung: Intubation & Intubations-Algorithmus). Weitere Kriterien für die Intubation sind steigender O2-Bedarf, stetig oder rasch sinkende SaO2, steigende Atemfrequenz > 30/min und Zunahme der Atemarbeit. Da es bei COVID-19 zu einer akuten Aggravierung der Hypoxämie und einer raschen Zustandsverschlechterung kommen kann, ist ein intensives Monitoring der Patienten unumgänglich, um einen Intubationsbedarf rechtzeitig zu erkennen.
Gute Daten bezüglich der zu wählenden Beatmungsmodi in der Initialphase nach Intubation (0-48h) gibt es bislang nicht. Insgesamt könnte ein druckkontrollierter Beatmungsmodus (z.B. BIPAP) aus physiologischer Sicht jedoch von Vorteil sein. In diesem Beatmungsmodus ist auch eine Spontanatmungsaktivität möglich. Zur Optimierung der Beatmung kann in der Anfangsphase eine Vertiefung der Sedierung und ggf. in Einzelfällen auch eine Relaxierung erwogen werden, um eine bessere Compliance zu gewährleisten und den Oxygenierungsindex bei gleichzeitig niedrigeren notwendigen Beatmungsdrücken zu verbessern.
Bei gutem klinischem Verlauf sollte durch Reduzierung der Analgosedierung eine rasche Spontanisierung der Atmung z.B. im CPAP-Modus angestrebt werden. Wie auch unter kontrollierter Beatmung ist auf Lungenprotektion (s.u.) zu achten. Ist eine längere Beatmungstherapie bei schwereren Formen des ARDS mit Bauchlagerungsepisoden notwendig, erfordert dies eine tiefe Analgosedierung bis etwa RASS -4 mit eventueller Relaxierung.
Um Atelektasen und den dadurch entstehenden Rechts-Links-Shunt sowie das pulmonale Ödem zu reduzieren, empfiehlt sich ein erhöhter PEEP, der bei steigendem FiO2-Bedarf mit Hilfe der FiO2-PEEP-Tabellen des ARDS-Network (s.u.) als Orientierungshilfe weiter angepasst werden kann. Dabei sollte, wenn möglich, initial nach der low-PEEP-Tabelle beatmet werden.
- initiale Einstellung nach low-PEEP Tabelle nach ARDS-Network
FiO2 | 0,3 | 0,4 | 0,4 | 0,5 | 0,5 | 0,6 | 0,7 | 0,7 | 0,7 | 0,8 | 0,9 | 0,9 | 0,9 | 1,0 |
PEEP | 5 | 5 | 8 | 8 | 10 | 10 | 10 | 12 | 14 | 14 | 14 | 16 | 18 | 18-24 |
- ggf. bei schwerem ARDS auch initiale Einstellung nach high-PEEP-Tabelle (sollte mit erfahrenem Intensivmediziner besprochen werden)
FiO2 | 0,3 | 0,3 | 0,3 | 0,3 | 0,3 | 0,4 | 0,4 | 0,5 | 0,5 | 0,5-0,8 | 0,8 | 0,9 | 1,0 | 1,0 |
PEEP | 5 | 8 | 10 | 12 | 14 | 14 | 16 | 16 | 18 | 20 | 22 | 22 | 22 | 24 |
Als Faustregel gilt, dass Patienten mit kritischer Hämodynamik bzw. guter Compliance bevorzugt nach low-PEEP-Tabelle beatmet werden sollten, bei Patienten mit geringer Compliance (z.B. adipöse Patienten, schweres ARDS) empfiehlt sich eher die high-PEEP-Tabelle.
Generell sollten Messmanöver (z.B. Best-PEEP-Trial) durchgeführt werden, um zu prüfen, ob der Patient von einer PEEP-Erhöhung profitiert.
Bei respiratorischer Verbesserung sollte zunächst die FiO2 reduziert werden, bevor der PEEP reduziert wird.
Im Fokus der ARDS-Beatmung steht die Lungenprotektion. Um eine weitere Schädigung der Lunge durch ventilatorinduzierte Mechanismen (VILI) wie zu hohe Atemzugvolumina, hohe Scherkräfte und hohe transpulmonale Drücke zu vermeiden, gilt es, einige Grundsätze zu beachten. In erster Linie sollten die Tidalvolumina möglichst niedrig gewählt und ein Driving Pressure (Differenz aus Spitzendruck und PEEP) höher als 15 mbar vermieden werden.
Zielparameter der Beatmung sind SaO2 = 90-94% und paO2 = 60-80 mmHg (bei vorbekannter COPD ggf. auch >55 mmHg). Dabei ist eine permissive Hyperkapnie bis zu einem paCO2 < 80 mmHg und pH-Werten bis > 7,2 möglich, ggf. kann ein Pufferversuch unternommen werden.
Mögliche Parameter zum Einstieg in die lungenprotektive Beatmung sehen wie folgt aus:
- niedriges Tidalvolumen (4-)5-6 ml/kg ideales Körpergewicht (Patienten ausmessen, Größe -100)
- PEEP ≥ 10 mbar
- Spitzendruck ≤ 30 mbar
- FiO2 0,5 (je nach Wert in der BGA)
- Atemfrequenz 16-20 /min
- I:E = 1:1,5
Nach Bedarf anzuwenden sind
- PEEP-Erhöhung auf 16-20 mbar
- Erhöhung des AMV über Erhöhung der AF bis 30/min
- Anpassung des I:E auf
- 1:1 bei führender Oxygenierungsstörung
- 1:2 bei paCO2/etCO2-Erhöhung oder Air trapping/intrinsic PEEP – erkennbar an Abbruch Exspiration in der Flow-Kurve des Beatmungsgerätes
- CAVE: ein inverses I:E soll nicht angewendet werden (z.B. 1,5:1 oder 2:1)
Führen diese Anpassungen nicht zu einer Verbesserung der Oxygenierung (paO2/FiO2 < 150 mmHg) oder weist die pulmonale Sonografie auf das Vorhandensein von Atelektasen hin, sollte frühzeitig (innerhalb der ersten 24 Stunden) eine konsequente Bauchlagerung für 16 Stunden im Wechsel mit Rückenlagerung (z.B. für 8 Stunden) erfolgen. Diese sollte in mehreren Zyklen erfolgen, Empfehlungen hierzu sprechen von bis zu 7 Wiederholungen. Hierbei sind Kontraindikationen zu beachten! Gegebenenfalls sind alternativ Seitenlagerungen von 90/135° mit Betonung einer Lungenseite und Besserung der Oxygenierung bei Lagerung auf die „gesündere Seite“ (= good lung down) möglich. Die radiologischen/sonografischen Befunde sollten auch hierbei beachtet werden.
Wird unter o.g. Maßnahmen keine ausreichende Verbesserung der Oxygenierung erzielt, kann in Einzelfällen eine NO-Inhalation in Betracht gezogen werden. An die Indikationsstellung einer ECMO-Therapie muss frühzeitig und breit gedacht werden (Horovitz-Index < 60 mmHg).
Bei anderen Primärerkrankungen als Ursache für ein ARDS liegt die Letalität der schweren Form bei bis zu 60%, weshalb auch bei ARDS durch COVID-19 mit einer hohen Case Fatality Rate gerechnet werden muss.
Mikroembolien & Endotheliitis
Erfahrungen aus der Intensivtherapie britischer Patienten legen nahe, dass in der Initialphase der respiratorischen Insuffizienz bei einigen Patienten mikroembolische Lungengefäßverschlüsse im Vordergrund der Oxygenierungsstörung stehen könnten. Dabei gibt es sowohl Beobachtungen, die ist möglicherweise mit einem Anstieg prokoagulatorischer Faktoren zu erklären. Die Compliance der Lunge sei dabei nicht eingeschränkt. ARDS und bakterielle Superinfektionen sowie die daraus resultierenden Probleme seien erst im späteren Verlauf relevant.
Die britischen Kollegen schlussfolgern daraus, dass in dieser Phase der Erkrankung die Beatmung nicht zu aggressiv gestaltet werden sollte, um negative Effekte in späteren Krankheitsstadien durch ventilatorassoziierte Schädigungen zu vermeiden. Ein niedriger Anfangs-PEEP (ca. 10 mbar) scheine bei vielen Patienten ausreichend zu sein.
Auch in dieser Erkrankungsphase wird eine frühe Bauchlagerungstherapie durch Verbesserung der Perfusionsverhältnisse empfohlen (ab paO2/FiO2 < 120 mmHg). NO-Inhalation oder die inhalative oder intravenöse Verabreichung von Prostazyklin könne möglicherweise ebenfalls die Perfusionssituation und damit den Gasaustausch verbessern.
Neuere pathologische Auswertungen von Gewebsproben von COVID-19-Patienten haben ergeben, dass virusbedingte Endothelschäden im Rahmen einer Endotheliitis ein ernstzunehmender Pathomechanismus bei schweren COVID-19-Verläufen darstellt. Damit ist COVID-19 keine reine Lungenerkrankung. Welche klinischen Konsequenzen daraus gezogen werden können ist noch unklar.
Fundierte Empfehlungen zur Antikoagulation bei COVID-19 (unfraktioniertes Heparin vs. LMWH, therapeutische vs. prophylaktische Dosierung) gibt es aktuell nicht.